Neuen Job suchen, Wohnung kündigen und zurück ins Kinderzimmer? Was man bereit ist, aufzugeben, wenn die eigenen Eltern Hilfe brauchen, ist für Ethiker Dieter Birnbacher Abwägungssache.
Muss ich zurück zu meinen Eltern ziehen, wenn sie pflegebedürftig werden?
„Es ist moralisch absolut vertretbar nicht zu den Eltern zu ziehen. Die Argumente, die auf frühere Generationen verweisen – etwa, dass man die Eltern selbstverständlich pflegt, weil es ‚früher auch so war‘ – lasse ich nicht gelten. All unsere gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich geändert, unsere Moral hat sich verändert. Eltern und Kinder wohnen nicht mehr ein Leben lang an einem Ort, sondern sind in der ganzen Welt verstreut. Wenn die Eltern pflegebedürftig werden, muss man sich die Frage stellen: Was bin ich bereit aufzugeben?
Sind die Kinder an keinen Standort gebunden, finde ich es durchaus vertretbar in die Nähe der pflegebedürftigen Eltern zu ziehen. Es muss nicht in dieselbe Wohnung sein. Wie bei Paaren kann es besser sein, sich nicht jeden Tag zu sehen. Meine Schwester ist zum Beispiel ins gleiche Haus gezogen wie unsere Eltern, aber eben nicht in dieselbe Wohnung. Es ist schon gut im Notfall schnell da zu sein.”
Protokoll: Viviane Menges
Was bringt Brandenburgs “Pakt für Pflege”?
Um mehr Pflege zu Hause zu ermöglichen – und um langfristig Geld zu sparen, hat die Brandenburger Landesregierung 2015 eine sogenannte Pflegeoffensive auf den Weg gebracht. Seit 2020 führt die Brandenburger Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Bündnis 90/ Die Grünen) das Förderprogramm als ‘Pakt für Pflege’ weiter.
Das Ziel: Beratungsstrukturen ausbauen und pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige unterstützen, zum Beispiel mit spezialisierten Anlaufstellen, den so genannten Pflegestützpunkten, oder ehrenamtlichen Hilfsprojekten. Dafür stehen jedes Jahr rund 20 Millionen Euro zur Verfügung. Seit 2021 wurden so fast 700 Projekte initiiert.
Die bisherige Brandenburger Landesregierung aus SPD, CDU und Grünen verbucht das Projekt als Erfolg: 87 Prozent der knapp 180.000 Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt – der bundesweit höchste Wert. 92 Prozent der kreisfreien Städte und Landkreise sagen: Der “Pakt für Pflege” habe die Situation der Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen verbessert. Das zeigt eine wissenschaftliche Auswertung des Projekts, die vom Sozialministerium in Auftrag gegeben wurde. Es sei für ein Flächenland wie Brandenburg aber auch nicht ungewöhnlich, dass so viele Menschen zuhause gepflegt werden, sagt Heike Prestin. Sie vertritt als Geschäftsführerin des Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe Nordost die Interessen von Pflegefachkräften in Brandenburg.
Dennoch ist das Förderprogramm auch aus ihrer Sicht ein guter Ansatz, weil es die Pflege auf kommunaler Ebene stärke. Der “Pakt für Pflege” zeige, dass Brandenburg das Thema Pflege auf dem Schirm hat: “Sich selbst als Kommune verantwortlich fühlen, das ist etwas, was in Brandenburg relativ gut funktioniert im Vergleich zu anderen Bundesländern.”
Auch aus Sicht von Ulrike Kempchen ist der “Pakt für Pflege” ein Schritt in die richtige Richtung. Sie vertritt mit dem BIVA-Pflegeschutzbund die Interessen von Pflegebedürftigen in ganz Deutschland. Das Problem bei Förderprojekten wie dem “Pakt für Pflege” sei aber, dass Strukturen zwar aufgebaut, dann aber nicht weitergeführt würden. Mit Sorge blickt sie deshalb auf die sozialpolitische Zukunft – und ob auch künftige Landesregierungen das Thema Pflegeversorgung in Brandenburg als eine drängende Aufgabe ansehen.
Ins Detail

Pflege in Brandenburg – Die Zahlen zu den Menschen
Von den Zahlen zu den Strukturen, die das Pflegesystem tragen: Ein Blick auf die Lage der Pflege in Brandenburg. Von Sophie Goldau und Felix Leitmeyer