„Sind Sie inkontinent?” Wer einen Pflegegrad beantragt, muss intime Fragen beantworten. Doch wenn sich Betroffene verstellen, bekommen sie möglicherweise nicht die passende Hilfe, warnt Jana Wiesner vom Medizinischen Dienst.
Soll sich meine Mama gebrechlicher stellen, wenn der Medizinische Dienst kommt?
„Viele Betroffene und ihre Angehörigen machen sich lange Gedanken darüber, wie sie sich am besten beim Termin mit dem Medizinischen Dienst verhalten sollen, um einen möglichst hohen Pflegegrad zu bekommen. Manche glauben tatsächlich, sie sollten sich gebrechlicher darstellen, als sie es tatsächlich sind. Das ist keine gute Idee. Als Gutachter merken wir das durchaus, wenn jemand versucht, uns hinters Licht zu führen. Wir achten nicht nur auf die Antworten, sondern auch auf viele kleine Details im Gespräch: Wie bewegt sich jemand? Wie spricht die Person? Wie reagiert sie? Wir prüfen Mobilität, Selbstversorgung und geistige Fähigkeiten – nach klaren Richtlinien. Und mit viel Erfahrung. Mein Tipp: Machen Sie sich nicht schlechter, als Sie sind. Ich verstehe, dass solche Termine nervös machen. Aber vertrauen Sie darauf, dass wir Ihre Situation so feststellen, wie sie wirklich ist. Wenn wir Zweifel haben, wird alles nur komplizierter. Wir fragen dann nochmal genau nach oder notieren unsere Bedenken. Dann kann es sein, dass wir nochmal vorbeikommen.
Wer sich verstellt, riskiert, nicht die passende Unterstützung zu bekommen – entweder zu wenig oder die falsche. Wir schauen nämlich nicht nur auf den Pflegegrad, sondern empfehlen auch passende Hilfsmittel oder Behandlungen. Viele halten sich übrigens auch für fitter, als sie eigentlich sind. Oder, sie tun so, als wären sie besonders eigenständig. Das merken wir auch. So sind viele überrascht, wenn sie in einen höheren Pflegegrad eingeordnet werden, als sie dachten und damit mehr Geld bekommen.”
Protokoll: Felix Leitmeyer
Was sind eigentlich die sogenannten Pflegegrade?
Menschen, die Pflege benötigen, können einen Pflegegrad beantragen. Mit einem Pflegegrad haben Betroffene Anspruch auf bestimmte Leistungen der Pflegeversicherung. Es gibt fünf Grade. Je höher der Grad, desto mehr Unterstützung braucht die Person – und desto mehr Ansprüche auf Pflegeleistungen und/oder Pflegegeld hat sie.
Wie pflegebedürftig jemand ist, schätzt der Medizinische Dienst der Krankenkassen ein. Einen Termin mit dem Medizinischen Dienst müssen die Betroffenen beantragen. Zur Begutachtung gibt es ein Punktesystem. Die Gutachter*innen bewerten verschiedene Bereiche wie Beweglichkeit, geistige Fähigkeiten, Selbstversorgung und Alltagsgestaltung. Die Gesamtpunktzahl bestimmt den Pflegegrad. Für Kleinkinder und Menschen mit Demenz gibt es besondere Regelungen bei der Einstufung.
Das System der Pflegegrade wurde 2017 eingeführt. Es ersetzt die früheren drei Pflegestufen.
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