unverschämte Fragen・unverstellte Antworten

Claudia Gratz
„Wir sind nicht die Pflegepolizei” 


Von Jannis Byell


Sie beraten Menschen, die in der Pflege an ihre Grenzen kommen. In welchen Fällen fühlen sich Angehörige besonders überfordert? 

Der Klassiker ist: Die Mutter wird Freitagnachmittag aus dem Krankenhaus entlassen, und kann plötzlich nicht mehr alleine bleiben. Sie hat keinen Pflegegrad, nichts wurde vorher organisiert. Viele haben dann die Erwartung:  “Jemand regelt das für mich. Das macht der Staat.” So ist es aber nicht.  Man ist dann selbst in der Verantwortung. Sowohl der Gepflegte als auch die Angehörigen. Auch wenn es keine gesetzliche Verpflichtung für Kinder gibt, sich um die Eltern zu kümmern. Höchstens eine moralische. 
Es geht dann darum, die richtigen Ansprechpartner zu finden, sei es der Pflegestützpunkt, um den Pflegegrad feststellen zu lassen oder eine Demenzberatungsstelle. Hier setzen wir an. Die meisten Menschen kümmern sich im Vorfeld nicht um das Thema. Auf Pflege ist keiner vorbereitet – und das führt oft zu Konflikten” 

Wie äußern sich diese? 

Bei Gewalt denkt man an blutige Nasen und blaue Flecken. Die Spuren sind aber häufiger psychisch als körperlich. Selten kommen Täter oder Opfer selbst zu uns, meistens ist es das Umfeld: Pflegeheime, die sagen: ‘Wir haben hier aggressive Angehörige, die bedrohen unsere Mitarbeiter.’ Oder sie haben einen Pflegebedürftigen, der gewalttätig wird. Aber auch Pflegekräfte können gewaltvoll werden oder übergriffig pflegen. In solchen Fällen beraten wir die Einrichtungen oder Pflegedienste, wie sie mit der Situation umgehen können. Aber es gibt manchmal auch Nachbarn, die sich melden und sagen: ‘Mir ist da was aufgefallen, da wird häufig geschrien.’” 

Wir merken aber, dass es noch eine Lücke im System gibt: Die Gruppe von Menschen, die eine psychische Erkrankung hat und dann alt und pflegebedürftig wird und im Heim landet, nimmt zu. Oft liegen Mehrfachdiagnosen vor, wie Alkoholismus, Demenz oder Parkinson. Die Mischung kann dazu führen, dass die Betroffenen ausrasten und gewalttätig werden. Normale Altersheime sind damit überfordert, weil sie nicht auf psychiatrische Erkrankungen ausgerichtet sind. Mit Demenz können sie meist umgehen, dafür sind sie ausgebildet. Aber bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, die zu Gewalt führen, fehlt oft die nötige Kompetenz. 

In Brandenburg werden 87 Prozent der pflegebedürftigen Menschen zu Hause versorgt. Wie unterscheiden sich die Gewaltprobleme in der häuslichen Pflege von denen in Pflegeheimen? 

Auch hier ganz klar: Überforderung. Vor allem wenn der Pflegeaufwand zu groß wird. Aber auch alte Gewaltmuster innerhalb von Familien spielen eine Rolle, die wieder hochkommen. Wenn die Mutter sich schon immer hat schlagen lassen und es nicht geschafft hat, da rauszukommen, dann wird sie das auch jetzt nicht können. Die Ursachen und Dynamiken sind oft dieselben: Überforderung und zwischenmenschliche Konflikte. Denn nicht nur pflegende Angehörige, sondern auch Pflegekräfte in Heimen sind oft am Rande ihrer Kräfte. 

Die Überlastung der Pflegekräfte wird durch den Fachkräftemangel sicherlich verstärkt. Wie wirkt sich das auf die Pflegeangebote in Brandenburg aus? 

Der Fachkräftemangel in Brandenburg ist ein großes Problem, variiert aber je nach Region stark. Es gibt Orte, da gibt es noch Pflegedienste, die Kapazitäten haben und es gibt andere Regionen, da findet man gar keinen Pflegedienst mehr. Das ist problematisch, denn es führt wieder zu Überforderung. 

Welche anderen Herausforderungen ergeben sich in Brandenburg durch die hohe Zahl an zuhause gepflegte Menschen? 

In Brandenburg gibt es aufgrund des demografischen Wandels relativ viele Pflegebedürftige, gleichzeitig ist es ein Flächenland und hat eine schlechte Infrastruktur. Deshalb hat die Landesregierung Projekte gestartet, um den vielen Pflegebedürftigen vor Ort Hilfen anzubieten – wie den ‘Pakt für Pflege’, der auch die ‘Pflege vor Ort’-Projekte ermöglicht. Das funktioniert bei Angeboten direkt im Ort oder der Kommune, wo man sagen kann: ‘Mensch, wir holen dich hier ab und dann kommst du zum gemeinsamen Mittagstisch oder mit zu anderen Projekten. ’ So kann der Vereinsamung entgegengewirkt werden. Das ist sehr Brandenburg-spezifisch. 

Was raten Sie Menschen, die im Umfeld Gewalt vermuten? 

Wir sind nicht die Pflegepolizei, die dann vor Ort nachschaut. Stattdessen besprechen wir gemeinsam, was getan werden kann. Wenn eine Nachbarin etwas meldet, reicht es manchmal aus, mit dem verantwortlichen Pflegedienst oder mit Familienmitgliedern zu sprechen. Es gibt zum Beispiel auch Fälle, in denen zum Beispiel der Vater dadurch, dass er seine Autonomie verliert, aggressiv wird. Das hat dann aber nichts mit anderen Menschen zu tun. Wir überlegen dann: Was braucht der Vater, um mit der Situation besser zurechtzukommen?  Wir bieten in solchen Fällen moderierte Familiengespräche an und geben Coachings, um Pflegeteams Strategien an die Hand zu geben, wie sie Konflikte ohne Beschuldigungen und Drohungen ansprechen können, wenn sie einen Gewaltverdacht haben. Generell gilt: Es gibt keine schnelle Patentlösung, aber sich Hilfe zu holen ist immer eine gute Idee.